Liebe Leser*innen,
„Insgesamt zieht sich ein Ton der Verbitterung durch das Papier.“ Das schrieb mir eine kluge Leserin, nachdem sie meine neue Studie zu den Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft in Deutschland gelesen hatte, die am 3. September veröffentlicht wurde. Sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen! Wir, das sind viele Akteure der Zivilgesellschaft und Experten, die zum Teil schon seit Jahrzehnten für angemessene Rahmenbedingungen kämpfen, sind in der Tat verbittert.
Gegen jede Vernunft und gegen die Realität einer wachsenden Zivilgesellschaft glauben politische Angsthasen, diese würde sie aus dem öffentlichen Raum vertreiben. Ihnen ist wie den Extremisten und leider auch manchen Unternehmern die unabhängige Zivilgesellschaft zuwider. Die zahllosen heterogenen Akteure der Zivilgesellschaft wollen sie als solche nicht sehen. Deshalb sind wir in Deutschland damit konfrontiert, daß der bürgerschaftliche Raum, der civic space, schrumpfen soll. Subtiler, aber im Ergebnis nur graduell anders als in autoritär geführten Regimen wird die Zivilgesellschaft bedrängt – durch Bürokratiemonster, die den Vereinen und Stiftungen zu schaffen machen, durch immer mehr Regulierungen und vor allem durch die Verweigerung eines ernsthaften Dialogs und der notwendigen Reform der Rahmenbedingungen. 22 Jahre, nachdem der Bundestag den Bericht der Enquete-Kommission ‚Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements‘ angenommen hat, hat sich substantiell nichts geändert. Kleine kosmetische Korrekturen hatten immer nur Trostpflaster-Qualität, während zugleich Stellschrauben gesetzt wurden, die mehr Regulierung, mehr Kontrolle, weniger Freiraum brachten.
Den Medien scheinen Interesse oder Sachkunde für dieses Themenfeld abzugehen, oder sie beugen sich den Wünschen derer, die ihre Aufmerksamkeit allein für sich reklamieren. Jedenfalls: Sie schweigen oder beschränken ihre Berichterstattung auf Reportagen. Bis heute gibt es Mandats- und Entscheidungsträger im politischen Raum, die Zivilgesellschaft auf das „Ehrenamt vor Ort“ reduzieren wollen, die nicht zugeben wollen, daß es sie überhaupt gibt, nicht wissen, welch wichtige Funktion sie in einer offenen Gesellschaft wahrnimmt. Alexis de Tocqueville hat diese vor fast 200 Jahren beschrieben!
„Nicht, daß Sie denken, wir wollten Sie alle in den Untergang treiben!“ Als jemand dies am 27. August 2024 in einem Fachgespräch zur neuesten Überraschung zum Thema Gemeinnützigkeitsrecht den versammelten Wissenschaftlern, Verbandsvertretern und weiteren Experten entgegenhielt, mußte ich sofort an Walter Ulbricht denken: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, sagte Ulbricht vor der Presse am 15. Juni 1961 – zwei Monate, bevor sie tatsächlich errichtet wurde. Er hatte sich verplappert. Sollte das auch jetzt so gewesen sein?
Das und mehr ist Grund für die Verbitterung. Sie hat damit zu tun, daß unsere Demokratie nicht in einem guten Zustand ist, daß sie reformiert und weiterentwickelt werden muß, daß ein aktiver unabhängiger bürgerschaftlicher Raum dafür der Schlüssel ist, daß, wer unsere Demokratie retten will, in der Zivilgesellschaft die beste Bundesgenossin hat. Sie zu ersticken – oder, wie der jüngste „Geniestreich“ aus dem Bundesfinanzministerium beabsichtigt, sie schutzlos der Kritik auszusetzen – ist der falsche Weg. Daß wir dafür keine Gesprächspartner finden, mit inhaltslosen Grußworten abgespeist werden, verbittert uns.
Wir sind schon lange an diesem Thema dran. Viele andere sind es auch. Wann finden wir Gehör? Wann beginnt der Dialog?
Mit freundlichen Grüßen
Rupert Graf Strachwitz
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