Liebe Leser*innen,
Was erlebt die Zivilgesellschaft zur Zeit von Seiten des Staates?
· Die fast vollständige Verweigerung eines Dialogs,
· Veränderungen im Zivilrecht und Steuerrecht, die ein deutliches Plus an Bürokratie mit sich bringen,
· immer mehr Registrierungspflichten,
· die Schaffung von alternativen Diskursräumen,
· die Öffnung von traditionell der Zivilgesellschaft zugeordneten Aufgaben für gewerbliche Anbieter,
· Kürzungen von Fördermitteln in erheblichem Umfang und
· immer mehr bürokratischen Aufwand in der Administrierung öffentlicher Mittel.
Zudem machen Urteile von deutschen Gerichten und Äußerungen von Politikerinnen und Politikern aus dem ganzen politischen Spektrum sowie von Mitarbeitenden der Staatsverwaltung den Akteuren der Zivilgesellschaft Sorgen. Ist das alles nur eine zufällige Verkettung von Einzelmaßnahmen oder folgt es einem strategischen Plan?
Sara Herschander, Reporterin bei der Fachzeitschrift The Chronicle of Philanthropy, hat am 11. Oktober 2024 einen interessanten Aufsatz zur Diskussion in den USA veröffentlicht, der mit dem Satz beginnt: „Während gemeinnützige Organisationen rapide expandieren, diskutieren Gesetzgeber und Experten über Maßnahmen, die die gemeinnützige Landschaft – von kleinen lokalen Vereinen bis zu milliardenschweren Institutionen – neu bestimmen könnten.“¹ Sie fügt hinzu, daß viele Parlamentarier nach verstärkter Kontrolle und Reformen rufen. Kommt uns das nicht bekannt vor?
Die Zahl der, wie wir sagen würden, als steuerbegünstigt anerkannten Organisationen in den USA ist seit der Jahrtausendwende von 1,35 (2000) auf 1,85 Millionen (2023) gestiegen. 98% haben Zwecke in den Bereichen Soziales, Bildung, Gesundheit, Kunst und Kultur, Religion und Umwelt (2000: 97%). Obwohl also dieses Wachstum vor allem von kleinen unpolitischen Organisationen getrieben ist, hat es zu einem Sturm von Kontroversen geführt, der sich insbesondere auf den möglichen politischen Einfluß großer Organisationen bezieht. Dazu gab es bspw. im Repräsentantenhaus eine Anhörung, bei der es im Kern um eine Spende von Marc Zuckerberg in Höhe von 300 Millionen US-Dollar für ein Zentrum ging, das angeblich demokratische Kandidaten in der Wahl von 2020 förderte.
Der Versuch, mit allgemeinen Regeln einige wenige bad actors zu treffen, hat, wie eine Studie des eher konservativen Philanthropy Roundtable zeigt, erhebliche Auswirkungen auf einen Bereich, der im Vorwort der Studie als „ein Eckstein der amerikanischen Gesellschaft“ beschrieben wird. Ausdrücklich wendet sich die Studie gegen Verdächtigungen, ein signifikanter Teil der Organisationen würde die Steuervorteile dazu nutzen, um Mittel von Milliardären und auswärtigen Gegnern auf politische Ziele zu lenken. Andere Think Tanks und Verbände wie Independent Sector und der amerikanische Stiftungsverband stützen diese Aussagen und weisen darauf hin, daß Behauptungen einiger republikanischer Kongreßabgeordneter, wonach das Wachstum des Sektors auf immer mehr reiche Spender und ausländische Mächte zurückzuführen sei, die Protestbewegungen unterstützten und Wahlen beeinflussen wollten, empirisch nicht belegbar sind.
Trotzdem wollen manche Mandatsträger das Steuersystem ändern. Die meisten Organisationen, die sie als bad actors diffamieren, sind aber nicht wirklich bad actors, sondern werden einfach von ihnen nicht gemocht. Während die Konservativen der Zivilgesellschaft unangemessen enge Bindungen an ausländische Geldgeber und sogar Terrorismus-Finanzierung vorwerfen, richtet sich die Kritik progressiver Kreise vornehmlich gegen eine mögliche Hintertür für Politikfinanzierung. In der Kritik der Politiker stehen auch die Gehälter der Vorstände mancher großer Organisationen – und der wachsende Anteil der Ausgaben, die für politische Kampagnen verwendet werden, ohne daß die Steuerverwaltung das wirksam überprüft. Nicht alle Kritiker gehen so weit, und noch ist nichts konkretes bekanntgeworden. Experten warnen jedoch, daß jede Regelung notwendigerweise Auswirkungen auf die Vielzahl der völlig unpolitischen Organisationen haben würde.
Alles in allem werden Unterschiede zur deutschen Debatte deutlich. Aber wenn Zivilgesellschaft pauschal als „grünes Projekt“ diffamiert wird, scheint die amerikanische der deutschen doch recht ähnlich zu sein. Daß über Mißbrauch des Status gesprochen werden muß, steht außer Frage. Aber wie in Deutschland scheint auch in den USA die Angst umzugehen, die erstarkte Zivilgesellschaft könne die Parteien aus der Machtposition verdrängen. Daß Auswüchse und Fehlentwicklungen zu beobachten und wo notwendig zu korrigieren sind, bleibt selbstverständlich Aufgabe des Staates. Offenbar können aber Politiker beiderseits des Atlantiks - aus anderen europäischen Ländern gäbe es ähnliches zu berichten - nicht davon lassen, den bürgerschaftlichen Raum für ihre politischen Machtspiele zu instrumentalisieren. Dabei bräuchte unsere marode Demokratie nichts dringender als diesen.
Berlin, 17. Oktober 2024, Dr. Rupert Graf Strachwitz
¹Sara Herschander: The Growing Pains of America‘s Nonprofit Sector. In: The Chronicle of Philanthropy. October 11, 2024 https://www.philanthropy.com/a... (Übersetzung v. Verf.)
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