Liebe Leserin, lieber Leser
In der aktuellen Corona-Zeit käme es wohl niemandem in den Sinn, Desinfektionsmittel zu verbieten. Der Bekämpfung von gefährlichen Keimen kommt heute eine grosse Bedeutung zu. Das weiss jedes Kind. Ständig ist Händewaschen angesagt und Desinfektionsstationen gibt es vor jedem Lebensmittelgeschäft. Es leuchtet allen ein, dass gerade im Umgang mit Lebensmitteln besondere Vorsicht geboten ist. Dass Desinfektionsmittel ein Produkt der chemischen Industrie sind und synthetisch hergestellt werden, stört in diesem Zusammenhang kaum jemanden. Die Gesundheit geht vor.
Allerdings ist unsere Vermutung falsch. Tatsächlich will jemand – zumindest in der Landwirtschaft und der Produktion von Lebensmitteln – Desinfektionsmittel verbieten. Voraussichtlich im nächsten Juni stimmt das Schweizer Volk über eine entsprechende Initiative ab. Die Initiative «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» verbietet synthetische Pestizide. Und zu synthetischen Pestiziden gehören gemäss international üblicher Definition sowohl Pflanzenschutzmittel als auch Biozide. Für den Alltag ist der Begriff «Biozid» etwas sperrig. Und er bedarf der Klärung. Wir haben dazu auf Swiss-Food eine konzise Erklärung zusammengestellt, die zusammen mit einem Faktenblatt der Gruppe Agrar Licht in den Begriffsdschungel bringt.
Die Gruppe der «Biozide» umfasst Desinfektions-, Reinigungs- und Schädlingsbekämpfungsmittel. Der Bundesrat warnt denn auch in der Botschaft zur Pestizidverbots-Initiative, dass diese nicht nur den Pflanzenschutz auf den Feldern betrifft. Gefährdet ist mit dem Volksbegehren auch die Lebensmittelsicherheit. Das zeigt auch unser Beitrag auf Swiss-Food anschaulich.
Lebensmittelsicherheit ist beispielsweise bei der Produktion von Milchprodukten zentral. Sauberkeit muss höchste Priorität haben. Mangelnde Hygiene kann in der Lebensmittelproduktion fatale Folgen haben. Das wissen wir eigentlich schon lange.
Natürlich liegt den meisten von uns Körperpflege näher als Stallhygiene. Wichtig ist Stallhygiene dennoch – nicht nur für die Lebensmittelsicherheit, sondern auch für die Gesundheit und das Wohlergehen der Tiere. So bedrohen die afrikanische Schweinepest und die Vogelgrippe die Tierbestände. Daher rufen die Behörden zur strikten Einhaltung der Stallhygiene auf. Man spricht von Biosicherheitsmassnahmen vor dem Betreten der Ställe. Dazu gehören Schuhwechsel, Überkleid und Händedesinfektion.
Wie ein kürzlich veröffentlichtes Gutachten der Hochschule St.Gallen zeigt, bürgt Desinfektion nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Lebensmittelindustrie für Lebensmittelsicherheit. Ein Verbot von synthetischen Bioziden hätte verheerende Auswirkungen für eine Industrie, die mit der Produktion von Schokolade und der Verarbeitung von Kaffee zu den Aushängeschildern der Schweiz zählt.
Biozide tragen erheblich dazu bei, eine vielfältige Auswahl an frischen und gesunden Lebensmitteln und Produkten in unsere Läden zu bringen sowie die Hygiene an zahlreichen Arbeitsplätzen wie beispielsweise in Spitälern zu gewährleisten. Denn alle Betriebe, die zumindest periodisch Produktionsanlagen und/oder Gebäudeteile desinfizieren müssen, verwenden dazu Desinfektionsmittel, also Biozide. Biozide wirken auch dem vorzeitigen Verderben und der Kontamination mit unerwünschten Mikroorganismen und Krankheitserregern sowie Schädlingen entgegen. Auch dies dient der Lebensmittelsicherheit sowie der Haltbarkeit von anderen Produkten.
Biozide sind zudem ein unerlässlicher Bestandteil des Gesundheitsschutzes: Sie schützen die Bevölkerung vor Schädlingen wie Mäusen, Schaben oder Fliegen, welche gefährliche Krankheiten übertragen können. Nicht zu vergessen sind hier sämtliche Wasserversorgungen der Schweiz: Ohne den Einsatz von Bioziden kann die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser in der Schweiz nicht realisiert werden. Wohl wenden heute viele Trinkwasserversorger auch physikalische Verfahren zur Trinkwasseraufbereitung an (Bestrahlung mit UV-Licht). Die meisten haben jedoch nach wie vor Dosieranlagen (z.B. für Chlor, Chlordioxid oder Ozon) in permanenter Bereitschaft, um ausserordentliche Situationen bewältigen zu können.
Und wenn der Begriff «Chlor» fällt, kommen einem unweigerlich Schwimmbäder in den Sinn. Zwei grosse Sonntagszeitungen haben just am 29. November 2020 Schwimmen als «coronataugliches Fitnesstraining» empfohlen. Und warum empfehlenswert? Eben – wegen des Chlors, dem unerlässlichen Biozid, das zuverlässig alle Arten von Keimen und Krankheitserregern von Schwimmbädern fernhält und sie damit sicher «bebadbar» macht.
Nicht einmal Blondinen würden Desinfektionsmittel verbieten wollen. Nun ist der Newsletter von Swiss-Food natürlich definitiv kein Ort für dämliche Blondinen Witze. Aber es gibt tatsächlich einen Zusammenhang: Mit Wasserstoffperoxid lassen sich die Haare blond färben, doch Wasserstoffperoxid gewährleistet in der Milchverarbeitung auch die notwendige Hygiene. Chemische Substanzen sind höchst vielfältig einsetzbar. Ein Verbot von Bioziden in der Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln ist absurd – genau so absurd wäre es in Zeiten von Corona, das Händewaschen zu verbieten.
Zudem sind die Grenzen zwischen Pflanzenschutzmitteln und Bioziden fliessend. Wirkstoffe, die als Pflanzenschutzmittel dienen, leisten auch als Biozide wertvolle Dienste. Sie können sogar Leben retten. So schützt beispielsweise die Applikation eines Biozids an den Wänden von afrikanischen Lehmhütten die Menschen vor der tödlichen Malaria. Ursprünglich kam das Produkt als Pflanzenschutzmittel auf den Markt. Der Malariabekämpfung kommt weiterhin eine grosse Bedeutung zu. Gerade hat die WHO darauf hingewiesen, dass es wegen der Corona-Pandemie zwischen 20'000 und 100'000 mehr Malaria-Tote geben könnte, die meisten davon Kinder. Einem WHO-Bericht zufolge starben 2019 rund 409'000 Menschen weltweit an Malaria, die meisten davon in Afrika.
Im Rahmen der Wintersession debattiert auch der Nationalrat über Biozide. Wie bei Pflanzenschutzmitteln gilt auch bei Bioziden, dass politische Entscheide auf Fakten beruhen und risikobasiert getroffen werden sollten, das gilt für Wirkstoffe genauso wie für ihre Abbauprodukte. Auch der Nutzen der Produkte gehört in die Abwägung. Generelle Pestizidverbote gefährden nicht nur die regionale landwirtschaftliche Produktion, sondern sie gefährden gleichzeitig die Lebensmittelsicherheit.
Entscheidend für die Frage, ob bei einem Produkt ein Risiko für Mensch und Umwelt besteht, ist die Anwendung. Das ist auch bei Bioziden so. Nimmt jemand einen Schluck Salmiakgeist oder Javelwasser zu sich, führt dies zu gefährlichen inneren Verbrennungen. Werden die Mittel jedoch schwach konzentriert zur Fenster- oder Oberflächenreinigung verwendet und Hände, Mund und Nase geschützt, besteht keine Gefahr. Im Gegenteil, beides sind verbreitete und nützliche Reinigungs- und Desinfektionsmittel. Im Übrigen würden auch weder die hier bemühte sprichwörtliche Blondine noch ihr Coiffeur Wasserstoffperoxid trinken.
Auf alle Fälle wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre. Auf swiss-food.ch finden sich laufend neue Texte und Fakten zu den Themen Pflanzenschutzmittel und Biozide.
Ihre Redaktion von swiss-food.ch
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