Liebe Leserin, lieber Leser
Die COVID-19-Pandemie ist eine Krise wie keine andere. Sie hat viele Volkswirtschaften gleichzeitig in eine Rezession gestürzt und zwei Jahrzehnte stetiger Fortschritte bei der globalen Armutsbekämpfung beendet. Bis heute wurden gemäss Weltbank 150 Millionen Menschen in die extreme Armut getrieben. Besonders hart von den «Lockdowns» betroffen, sind Menschen, die auf tägliche Einnahmen angewiesen sind. Das World Resource Institute (WRI) schreibt: «Die wirtschaftlichen Auswirkungen sowohl der Klima- als auch der Coronavirus-Krise werden wahrscheinlich vor allem von einer Gruppe am stärksten zu spüren sein: den mehr als 2 Milliarden Menschen, die für ihren Lebensunterhalt auf den informellen Sektor angewiesen sind.» Die Staatsverschuldung ist laut IWF auf einem Rekordhoch von 100 Prozent des BIP. Zu dieser Herausforderung kommt hinzu, dass die Weltbevölkerung bis 2050 auf insgesamt 9,8 Milliarden Menschen anwachsen wird - und mehr als die Hälfte der prognostizierten 2,2 Milliarden Kinder in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara zur Welt kommen werden. Die Landwirte und insbesondere die Kleinbauern weltweit müssen ihre Erträge drastisch steigern, damit die Weltbevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden kann. Um 10 Milliarden Menschen bis 2050 nachhaltig zu ernähren, müssen gemäss World Resource Institute drei Lücken geschlossen werden:
- Eine 56-prozentige Nahrungsmittellücke zwischen den im Jahr 2010 produzierten und den im Jahr 2050 bei «Business as usual»-Wachstum benötigten Erntekalorien;
- Eine Lücke von 593 Millionen Hektar Land (eine Fläche fast doppelt so groß wie Indien) zwischen der globalen landwirtschaftlichen Nutzfläche im Jahr 2010 und der erwarteten landwirtschaftlichen Expansion bis 2050;
- Eine Lücke von 11 Gigatonnen Treibhausgas-Minderung zwischen den erwarteten landwirtschaftlichen Emissionen im Jahr 2050 und dem Zielwert, der notwendig ist, um die globale Erwärmung unter 2 Grad Celsius zu halten. Dies ist der Wert, der notwendig ist, um die schlimmsten Klimaauswirkungen zu verhindern.
Zusätzlich: Da gemäss UNO im Jahr 2050 voraussichtlich 68 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden, wird es städtische Landwirte brauchen. Sie müssen in der Lage sein, auch inmitten dichter Bevölkerungszentren Nahrung zu produzieren. Und unter den «Städtern» werden die allermeisten Leute nicht auf dem Wohlstandsniveau der Schweiz sein. Nahrung muss für sie erschwinglich bleiben. Während sich viele Schweizer den Luxus leisten können, sich heute vegan, morgen flexitarisch, übermorgen carnivorisch und überübermorgen vegetarisch zu ernähren, sind für diese Gruppen steigende Lebensmittelpreise existenzbedrohend. Damit die Mehrheit der Weltbevölkerung ausgewogen ernährt werden kann, prognostiziert der EAT Lancet Report eine Verdoppelung der weltweiten Früchte- und Gemüseproduktion bis 2050.
Dabei stellt sich eine Reihe drängender Fragen: Wo ist die Evidenz dafür, dass diese Kulturen kurz- wie langfristig ohne externe Inputs produziert werden können? Wo die Evidenz dafür, dass das ohne Hilfsmittel auf den bestehenden Agrarflächen geschehen kann, denn niemand will deren Ausbreitung in Urwälder und Naturflächen? Wo will man die Leute für die massive zusätzliche Handarbeit hernehmen, wenn die Mehrheit der Menschheit in Städten leben? Wo findet man die Arbeitskräfte, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Bauern gerade in Entwicklungsländern Landwirtschaft nicht zum Spass macht, sondern mangels anderer Optionen – und sich die Bauern oder ihre Kinder bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in die Städte absetzen?
Diese Fragen würden wir gerne mit jenen Kreisen diskutieren, die in regelmässigen Abständen gegen die «Agrarkonzerne» demonstrieren. Tatsache ist, es muss uns gelingen, mehr mit weniger zu produzieren – ressourceneffizient in allen Dimensionen. Das heisst: Es braucht eine Landwirtschaft, die einen geringstmöglichen Druck auf natürliche Ressourcen wie auch aufs Klima ausübt und gleichzeitig eine Optimierung des Ernteertrags unter Verwendung von möglichst wenigen Produktionsmitteln (wie Arbeit, Finanzen, Energie, Land, Wasser, Dünger oder Pflanzenschutzmitteln) ermöglicht. Dafür braucht es die dringende Diskussion, was eine nachhaltige Landwirtwirtschaft wirklich ist. Es braucht den Mut, auch Zielkonflikte anzusprechen. Dazu haben sich drei Experten am letzten Swiss-Food-Talk geäussert. Und dazu braucht der Ernährungssektor alle verfügbaren Technologien – und es braucht politische Entscheide auf Basis von realistischen Einschätzungen. Die verklärte Vorstellung von angeblich pestizidfreien Paradiesen hilft niemandem weiter.
Fakt ist: Wir alle müssen als Gesellschaft wieder lernen, mit Risiken umzugehen, statt zu meinen, Probleme einfach mit Verhinderung und Verboten lösen zu können. Stimmen aus der Wirtschaft werden sehr schnell damit abgetan, dass «die Konzerne nur den schnöden Mammon vertreten würden». Doch gerade die forschende Industrie hat ein sehr gutes Gefühl für das Machbare. Kosten-Nutzen-Abschätzungen gehören zu ihrem Tagesgeschäft. Dieses ständige Alertsein, dieses stete Abwägen auch im Interesse der Ressourceneffizienz führt dazu, dass sich gerade grosse Unternehmen sehr agil verhalten, verhalten müssen. Sie adaptieren laufend ihr Verhalten. Reagieren auf Regularien, Trends, Konsumentenerwartungen. So erschliessen sie ihre Märkte. Doch auch Unternehmen können nicht zaubern. Sie müssen sich an den Fakten orientieren. Sonst versprechen sie ihren Kunden und den weiteren Anspruchsgruppen Dinge, die sie nicht halten können.
Wie aber meistern die Unternehmen den steten Prozess von Erwartungen und Ansprüchen an die Realität? Der Zukunftsforscher Matthias Horx machte gegenüber der Zeitschrift «persönlich» eine bedenkenswerte Aussage. Auf die Frage, wie es gelinge, aus einer produktzentrierten eine kundenzentrierte Organisation zu machen, sagte er: «Ich bin mir gar nicht so sicher, ob kundenzentrierte Innovation der richtige Weg ist. Kundenzentrierte Innovation führt oft zu einem «wishful thinking» – oder einfach in die Irre. Wenn man die Leute vor 120 Jahren fragte, welches Verkehrsmittel sie wollten, sagten sie immer, schnelle Kutschen. Man braucht, glaube ich, auch ein Gespür für die Gesellschaft, die weiteren Kontexte (...) Wir nennen das «sich in den Kontext der Zukunft setzen.»
Horx ist überzeugt, dass Widerstände vor allem daher rühren, dass etwas nicht verstanden wird und damit für die Adressierten keinen Sinn macht. Übertragen auf die aktuellen Diskussionen rund um die «richtige» Art von Landwirtschaft heisst das nichts anderes, als dass sowohl Pragmatismus als auch Ehrlichkeit angezeigt sind: Wer Labels marketinggetrieben emotional auflädt, läuft Gefahr, dass ihnen die Realität abhandenkommt. Ehrliche Kommunikation ist langfristig robuster. Das zeigen die zum Teil geharnischten Reaktionen auf das klare Nein der Bio Suisse-Delegierten zur Trinkwasser-Initiative. Denn wie es Anne Challandes, Biobäuerin und Präsidentin des Schweizer Landfrauenverbandes gegenüber «Le Matin Dimanche» vom 18. April 2021 ausdrückt: «Es ist noch ein langer Weg, und der Bio-Landbau hat seine Grenzen: Es gibt weniger Ertrag und wir haben noch nicht alle Lösungen, um die Pflanzen zu schützen.»
Fazit: Auch im Umgang mit Volksinitiativen wie den beiden Agrar-Initiativen ist Realismus angebracht. Sowohl in Bezug auf die Ziele wie auf das Machbare und die verfügbaren Alternativen. Denn vollwertige Alternativen gibt es nicht: Neue biologische Wirkstoffe werden synthetische Wirkstoffe nicht vollständig ersetzen können. Das hat verschiedene Gründe. Biologische Wirkstoffe sind weniger stabil und oft weniger wirksam. Zudem ruft die oft ungenügende Verfügbarkeit in der Natur nach einer «künstlichen» Produktion. Das ist im Übrigen auch in der Humanmedizin so. Allerdings können biologische Wirkstoffe eine wichtige Rolle im Resistenz- und Rückstandsmanagement spielen. Doch auch biologische Wirkstoffe können negative Effekte haben.
Der Resistenzzüchtung wiederum sind Grenzen bezüglich Breite und Dauer der (spezifischen) Wirkung gesetzt. Es gibt schlicht keine auf Dauer und gegen alle möglichen Krankheiten und Schädlinge resistenten Pflanzen. Die Natur ist und bleibt sehr anpassungsfähig: Resistenzdurchbrüche sind die Folge. Alternativen zu Herbiziden haben oft energetische Nachteile und führen zu mehr Bodenverdichtung und mehr klimaschädlichen Emissionen. So arbeiten Roboter, die Pflanzenschutzmittel viel präziser ausbringen und bis zu 95 Prozent Menge einsparen vorab mit synthetischen Pflanzenschutzmitteln. Die Skalierung digitaler Prognose- und Applikationstools braucht zudem moderne Kommunikationstechnologie auf Basis von 5G – nichts für grundsätzliche Technologieskeptiker.
Mit Blick auf die kommende Abstimmung über die beiden Agrar-Initiativen sind also Realismus und Pragmatik gute Ratgeber. In Zeiten der enormen globalen Herausforderungen und Unsicherheiten sollte unser Land die Kompetenz erhalten, die eigene Bevölkerung zumindest teilweise mit regionalen Lebensmitteln zu erschwinglichen Preisen zu versorgen. Letztlich spricht genau diese Überlegung für ein doppeltes «Nein».
Ihre Redaktion von swiss-food.ch
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