Zur "neuen Europäischen Bauhaus-Bewegung" von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Berlin, 4.01.2021
Sehr geehrte Damen und Herren,
Mit dem Europäischen Green Deal will Ursula von der Leyen eine „neue Europäische Bauhaus-Bewegung“ anstoßen. Dazu haben wir gute Nachrichten: Die gibt es bereits. Unsere Stellungnahme dazu stellen wir Ihnen hiermit gerne bereit.
Das Jahr 2020 ist vorbei. Die Corona-Pandemie wird die Welt noch weiter belasten, doch zum Jahresanfang richten wir den Blick nach vorne — und sehen zum Beginn dieser Zwanzigerjahre nicht nur die Probleme, sondern auch eine riesige Chance: den Europäischen Green Deal. In einem Gastbeitrag hat die amtierende Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, beschrieben, wie sie ihn mit Leben füllen will — Wir haben ihre Worte genau gelesen.
„Wir müssen umdenken und umplanen“, fordert von der Leyen. „Unsere Wirtschaft muss sich stärker in Kreisläufen organisieren“ — das lesen wir sehr gern, auch wenn wir mit C2C freilich noch weitergehen und sagen: Wirtschaft muss sich nicht nur stärker, sondern komplett in Kreisläufen organisieren. Dennoch weist Frau von der Leyen mit ihren Worten der EU den richtigen Weg: Ressourcennutzung und Klimaschutz müssen zusammen mit allen anderen Umweltfragen gedacht und beantwortet werden.
Mehr als Klimaneutralität
„Dafür braucht es aber mehr als nur das Zurückfahren der Emissionen“, schreibt sie weiter. Wenn das die Forderung nach positiv definierten Zielen statt Neutralität ist, nach mehr guten Technologien statt nach weniger schlechten, dann stimmen wir ein: Weiter so, her mit dem guten Leben! Dass sie an anderen Stellen immer wieder die „Klimaneutralität“ beschwört, irritiert uns indes; hoffentlich wird das noch der Erkenntnis weichen, dass wir Menschen niemals ökologisch unsichtbar sein werden. Doch dann lesen wir ihren stärksten Aufschlag: „Der Green Deal muss auch ein neues kulturelles Projekt für Europa sein!“
Ausrufezeichen sind bekanntlich sparsam einzusetzen; in ihrem Beitrag findet sich nur dieses eine, und das hat sie ihrem wichtigsten Satz geschenkt: ein neues kulturelles Projekt — genau das ist Cradle to Cradle. Seit Jahren bauen wir mit viel Herzblut und Hirnschmalz gemeinsam mit einer vitalen Community genau das auf, was Frau von der Leyen etablieren möchte: Wir sind bereits eine „kreative und interdisziplinäre Bewegung“; wir „sind dem Thema Nachhaltigkeit verpflichtet, setzen aber unterschiedliche Schwerpunkte“; wir sind auch schon ein „kreatives Experimentallabor und Andockstelle“ für die Industrie; unser Berliner C2C LAB ist schon ein, wie ihn von der Leyen fordert, „Raum des gemeinsamen Gestaltens und der Kreativität, in dem Architekten, Künstlerinnen, Studenten, Systemwissenschaftler, Ingenieurinnen und Designer zusammenarbeiten“; und wir schaffen es bereits, „Nachhaltigkeit mit gutem Design zu verbinden“.
Auch der Fokus auf die Baubranche ist richtig: Die Weltbevölkerung wächst, und mit ihr die Städte und der Energiebedarf von Gebäuden. Doch erst wenn ein Haus mehr Energie produziert, als seine Bewohner verbrauchen; wenn seine Fassade CO2 und Feinstaub bindet; wenn seine Innenräume schön und gesund sind; wenn sein Bau und seine Bestandteile keinen Beitrag leisten zu den traurigen 60%, die die Bauwirtschaft am gesamten Müllaufkommen der Welt hat — erst dann ist es ein Haus nach Cradle to Cradle. Und wie genau stellt sich Frau von der Leyen das neue Europäische Bauhaus vor? Es ist eine „Architektur, die sich naturnahe Formen und Konstruktionsprinzipien zu eigen macht, die von Anfang an auf Wechselwirkungen in Ökosystemen Rücksicht nimmt, die Nachhaltigkeit und Wiederverwendbarkeit von Anfang an einplant“. Gut gesagt, und genau das kann mit Cradle to Cradle von der Architektur auf jedes Design, auf jedes Produkt und jede Dienstleistung übertragen werden.
Eine Wirtschaftsform, in der alles in Kreisläufen zirkuliert
So würden wir über alle Sektoren hinweg eine Wirtschaftsform schaffen, in der alles in endlosen Kreisläufen zirkuliert und gesund für Mensch und Umwelt ist. Produktionsprozesse sind dann transparent und fair, Vielfalt selbstverständlich. Im richtigen politischen Rahmen verschafft C2C deutliche Wettbewerbsvorteile — diesen Rahmen gilt es zu schaffen! Denn erst wenn Umweltschäden im Preis berücksichtig sind, ist dieser Preis real; das gilt für Strom und Brennstoffe, für Stahl und Beton, für Textilien, Kunststoffe und Lebensmittel. Dann kann eine moderne und zukunftsgerichtete Marktwirtschaft funktionieren, denn dann sind Ökonomie, Ökologie und soziale Aspekte durch C2C untrennbar miteinander verbunden.
Doch genau hier wollen die starken Worte der Frau von der Leyen nicht so recht zusammenpassen mit der aktuellen EU-Politik: Die letzte Agrarreform etwa ist das genaue Gegenteil ihrer Vision und unserer Forderungen: sie bevorzugt Monopolismus und Monokulturen, statt Fairness und Vielfalt, indem Quantität statt Qualität gefördert wird. Sie verhindert den Aufbau eines Kohlenstoffkreislaufs in der Landwirtschaft, der so wichtig wäre, um die CO2-Emissionen in die Atmosphäre zu senken und gleichzeitig Böden als Kohlenstoffsenken zu nutzen und sie fruchtbarer zu machen.
Was hindert die EU, von der Leyens Vision und C2C-Innovationen umzusetzen?
Und auch in vielen anderen Bereichen der EU hat sich die Vision des Europäischen Bauhaus noch nicht herumgesprochen; ein umfassendes Verständnis von Nachhaltigkeit fehlt im politischen Brüssel — und das macht uns wirklich ungeduldig:
Warum dauert das alles so lange? Welche Hürden stehen der Etablierung von C2C auf EU-Ebene im Wege? Trauen sich die europäischen Großkonzerne keine zukunftsfähigen und wirklich nachhaltigen Innovationen zu? Warum klammern sie sich an den Status Quo? Oder fehlt vielleicht den EU-Politiker*innen die Zuversicht auf Erfolg, der Mut zur Verbesserung? All das ist doppelt ärgerlich: Weil dieser Richtungswechsel in Politik und Wirtschaft nicht nur nötig wäre, sondern auch möglich ist! Die Technologien dafür sind längst entwickelt, es geht nurmehr darum, sie um- und einzusetzen. Einige Pionier*innen machen dies bereits, doch es sind längst nicht genug. Es gibt Baumaterialien, die sowohl gesund als auch kreislauffähig sind — und damit so wertvoll, dass Gebäude durch ihren Einsatz zu echten „Rohstofflagern“ werden. Es gibt Textilien, deren Mikropartikel kompostierbar sind und so im biologischen Kreislauf zirkulieren können, wenn sie aus der Waschmaschine zwangsweise ins Grundwasser gelangen. Und es gibt sogar Kunststoffe, die komplett biologisch abbaubar sind! Warum werden solche Innovationen nicht längst zum Standard erklärt?
Krempelt mit uns die Ärmel hoch
Auch andere Fragen bleiben nach der Lektüre offen: Mit Hilfe der Digitalisierung können wir ganze Lieferketten daraufhin durchleuchten, welche Produkte wirklich nur aus gesunden und kreislauffähigen Materialien bestehen und wie sie produziert wurden. Diese Informationen können bei der Herstellung helfen, Produkt- und Produktionsstandards zu verbessern und machen die Qualität von Inhaltsstoffen und Wertschöpfungsketten transparent für Konsument*innen. Warum hat dies noch keinen Einzug in EU-Richtlinien gefunden? Wann wird die Vision von Ursula von der Leyen also Realität — und wie?
Diese Fragen drängen nach wie vor. Statt deshalb aber die Stirn zu runzeln und die Arme zu verschränken, krempeln wir lieber die Ärmel hoch und packen an. Denn aus dem Papier, mit dem Ursula von der Leyen so schön geraschelt hat, lässt sich noch kein neues Europäisches Bauhaus errichten; damit es stabil wird, ist noch viel Arbeit nötig — und genau diese Arbeit setzen wir im Jahr 2021 fort.
Wer macht mit?
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